Eine wachsende Zahl von Forschungsergebnissen zeigt, dass politische Propaganda dazu beiträgt extremistische Ideologien zu verbreiten (Adena et al., 2015; Yanagizawa-Drott, 2014; Selb und Munzert, 2018; Wang, 2021). Solche Ideologien können die Grundlagen von Demokratien untergraben und im schlimmsten Fall den Aufstieg autoritärer Regime beschleunigen (Fitzpatrick, 2001; Shirer, 1960).
Wie können demokratische Gesellschaften ihren Bürgern helfen, die Vor- und Nachteile extremer Ideologien gut informiert zu bewerten? Könnte der Geschichtsunterricht in der Schulzeit dazu beitragen? Unsere Studie untersucht diese Frage und erforscht, ob Geschichtsunterricht zu einem autoritären Regime die Unterstützung für die mit diesem Regime verbundene extremistische Ideologie dauerhaft verringern kann.
Ein natürliches Experiment im Bundesland Niedersachsen bot eine einzigartige Gelegenheit, diese Frage zu untersuchen. Zwischen 2009 und 2014 wurde dort im Geschichtsunterricht der gymnasialen Oberstufe abwechselnd über die Abschlussjahrgänge hinweg über zwei historische Episoden unterrichtet – entweder die sozialistische DDR oder den faschistischen Nationalsozialismus. Dabei haben die Abitur-Jahrgänge 2011 und 2012 die DDR behandelt, während die zwei Jahrgänge davor und danach den Nationalsozialismus behandelt haben.
Über eine Befragung von mehr als 2.000 ehemaligen Schülern dieser Kohorten, die Anfang 2024 stattfand, konnten wir messen, wie Unterricht zu einem Regime im Vergleich zum anderen das Wissen über die Regime und die politische Einstellungen zu extrem linken und extrem rechten Ideologien später im Leben beeinflusst. Unsere Ergebnisse geben wichtige Einblicke in das Potenzial des Geschichtsunterrichts, politische Überzeugungen langfristig zu beeinflussen.
Wie in Abbildung 1 dargestellt, haben ehemalige SchülerInnen, die in der Oberstufe die DDR behandelt haben, weitaus mehr Wissen über die DDR als diejenigen, die den Nationalsozialismus behandelt haben. Sie erzielten sogar ca. ein Jahrzehnt nach Schulabschluss noch eine um 7% höhere Punktzahl in einem 7-Fragen Wissensquiz über die DDR. Dieser langfristige Effekt unterstreicht, dass bei intensivem Unterricht zu bestimmten historischen Regimen auch langfristig viel “hängen bleibt”. Das Wissen über den Nationalsozialismus ist dagegen in beiden Gruppen ungefähr gleich. Das könnte daran liegen, dass dieses Thema schon in der 9. oder 10. Klasse ein fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts ist, unabhängig vom Curriculum der gymnasialen Oberstufe.
Abbildung 1: Diese Grafik zeigt die durchschnittlich richtig beantwortete Anzahl von Wissens-Fragen (in einem 7-Fragen Quiz), nach Thema (DDR links und Nationalsozialismus rechts) und Abitur-Abschlussjahrgängen aufgeschlüsselt. Basierend auf den Antworten von allen 2,000 Teilnehmenden an unserer Umfrage mit niedersächsischem Abiturabschluss zwischen 2009-2014.
Über das Wissen hinaus hatte der Wechsel der Geschichtsthemen wichtige Auswirkungen auf politische Einstellungen. Wie in Abbildung 2 dargestellt, zeigen ehemalige SchülerInnen, die sich in der gymnasialen Oberstufe mit der DDR beschäftigt hatten, deutlich weniger Unterstützung für extrem linke Ideen als diejenigen, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigten. Dabei wurde die Unterstützung für jede Ideologie mithilfe von Indizes gemessen, die aus der Zustimmung der Teilnehmenden zu 12 Aussagen auf einer 7-Punkte-Skala berechnet wurden, wobei höhere Werte eine stärkere Übereinstimmung mit der jeweiligen Ideologie anzeigen.
In der Umfrage äußerten diejenigen, die die DDR behandelt hatten, weniger Zustimmung zu sozialistischen Kernideen wie umfassender staatlicher Kontrolle über die Wirtschaft (z.B. eine 100% Vermögens-Steuer) und Unterstützung eines sozialistischen Staates. D.h. dass Geschichtsunterricht zur DDR die Neigung der Teilnehmer zu extrem linken Einstellungen bis weit ins Erwachsenenalter hinein verringert. Im Durchschnitt über die 12 Aussagen hinweg, die extrem linke Positionen vertreten, haben ca. 2.3% der Teilnehmenden aufgrund des Unterrichts zur DDR ihre Meinung von Zustimmung hin zu Ablehnung geändert, was einem Effekt von 6% der Ablehnungsrate der Teilnehmenden, die in der Oberstufe den Nationalsozialismus behandelt haben, entspricht.
Abbildung 2: Diese Grafik zeigt die durchschnittlichen Index-Werte zur Unterstützung extem linker (linke Grafik) und extrem rechter (rechte Grafik) Ideologien, nach Abitur-Abschlussjahrgängen aufgeschlüsselt. Basierend auf den Antworten von allen 2,000 Teilnehmenden an unserer Umfrage mit niedersächsischem Abiturabschluss zwischen 2009-2014.
Die Unterstützung für extrem rechte Einstellungen wurde zwar insgesamt im Durchschnitt durch den Themenwechsel nicht beeinflusst. Dabei gab es aber je nach regionalem politischem Kontext große Unterschiede in den Effekten (siehe Abbildung 3). In Regionen Niedersachsens, in denen die rechte Alternative für Deutschland (AfD) stärkere Unterstützung hat, hatte die Behandlung des Themas DDR anstatt des Themas Nationalsozialismus einen Anstieg der Unterstützung extrem rechter Ansichten zur Folge, während das in Regionen, in denen die AfD relativ wenig Unterstützung genießt, nicht der Fall war. Diese regionalen Unterschiede legen nahe, dass das breitere soziale und politische Umfeld einen erheblichen Einfluss auf die Auswirkungen des Geschichtsunterrichts hat.
Abbildung 3: Diese Grafik zeigt den durchschnittlichen Effekt des Geschichtsunterrichts zur DDR anstatt zum Nationalsozialismus auf den Index zur Unterstützung extrem linker Ideologie (linke Grafik) und auf den Index zur Unterstützung extrem rechter Ideologie (rechte Grafik), aufgeschlüsselt nach Regionen in Niedersachsen mit mehr oder weniger Stimmanteil der Partei Die Linke (linke Grafik) und der Partei AfD (rechte Grafik). Basierend auf den Antworten von allen 2,000 Teilnehmenden an unserer Umfrage mit niedersächsischem Abiturabschluss zwischen 2009-2014.
Die Ergebnisse haben wichtige Implikationen für die Bildungspolitik. Erstens unterstreichen sie die nachhaltige Wirkung des Geschichtsunterrichts. Unterricht zu autoritären Regimen bewirkt mehr als nur historisches Wissen zu vermitteln; er kann die Unterstützung für die zugrundeliegenden Ideologien langfristig verringern.
Zweitens tragen unsere Ergebnisse auch zur breiteren Debatte über die Rolle der Geisteswissenschaften in der Bildung bei, insbesondere hinsichtlich ihrer Bedeutung zur Stärkung demokratischer Gesellschaften. Der Wert von Fächern wie Geschichte geht über einfaches Wissen hinaus; Bildung in diesen Fächern kann Bürgern langfristig dabei helfen, extreme Ideologien differenziert und informiert bewerten zu können. Während viele Bildungssysteme MINT-Fächer immer stärker betonen, legt unsere Studie nahe, dass Geisteswissenschaften wie Geschichte nicht vernachlässigt werden sollten, weil sie zur Herausbildung demokratischer Werte beitragen.
Adena, Maja, Ruben Enikolopov, Maria Petrova, Veronica Santarosa, & Ekaterina Zhuravskaya. 2015. “Radio and the Rise of the Nazis in Prewar Germany.” Quarterly Journal of Economics, 130.
Fitzpatrick, Sheila. 2001. The Russian Revolution. Oxford University Press.
Selb, Peter, & Simon Munzert. 2018. “Examining a Most Likely Case for Strong Campaign Effects: Hitler’s Speeches and the Rise of the Nazi Party, 1927–1933.” AmericanPolitical Science Review, 112(4).
Shirer, William M. 1960. The Rise and Fall of the Third Reich. Simon and Schuster.
Wang, Tianyi. 2021. “Media, Pulpit, and Populist Persuasion: Evidence from Father Coughlin.” American Economic Review, 111(9).
Yanagizawa-Drott, David. 2014. “Propaganda and Conflict: Evidence from the Rwandan Genocide.” Quarterly Journal of Economics, 129.